Europäische Seidenstraße in Zentralasien

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, 16. Oktober 2023

Wenn es nach der Europäischen Union geht, könnten mit ihrer Unterstützung blühende Landschaften in Zentralasien entstehen: Auf Schiene, Straße und per Schiff werden die Binnenländer in der Region mit der Türkei und Osteuropa verbunden. Damit erwächst der nördlichen Route durch Russland, auf der trotz Ukraine-Kriegs immer noch ein großer Teil des Gütertransports zwischen China und Europa abgewickelt wird, Konkurrenz. Das Einzugsgebiet des Verkehrsnetzes deckt alle fünf zentralasiatischen Länder und die wichtigsten Bevölkerungs- und Produktionszentren wie Almaty, Taschkent, Bischkek oder Duschanbe ab. Auf diese Weise wird eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung der riesigen Region angeschoben. Der Investitionsumfang: 18,5 Milliarden Euro.

Chancen

Noch ist das allerdings nicht Realität, sondern Vision. Bislang existiert nur eine Studie für diesen „nachhaltigen zentralen transkaspischen Korridor“, erstellt von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Die Studie ist ein “Leuchtturmprojekt” der europäischen Konnektivitäts-Initiative Global Gateway und soll die Basis für weitere Projekte werden. Erschienen im Juni 2023, zielt sie darauf ab, „das Tauwetter in Russlands Peripherie“ auszunutzen, das ein Kommentar in der US-Zeitschrift Foreign Policy im November vergangenen Jahres diagnostiziert hat, und durch das sich „die geopolitische Landschaft in Eurasien als dynamisch erweisen könnte“.

“The United States and Europe should not miss the chance to quietly but energetically exploit Russia’s colossal strategic mistake.“

Daniel B. Baer, Carnegie Endowment for International Peace, October 14, 2022

Nicht nur geographisch und logistisch spielen die fünf zentralasiatischen Länder eine Schlüsselrolle für die gesamte eurasische Region. Nach dem Ende der Sowjetunion entwickelten sie zunehmend nationales Selbstvertrauen. Sie haben in den vergangenen Jahren als Energielieferanten nicht nur gen China, sondern auch gen Westen vom ungebrochenen Boom mit fossilen Energien und von Beijings Neuer Seidenstraße profitiert und sich von den strukturellen und politischen Abhängigkeiten der Sowjetzeit ein Stück weit befreien können. Durch eine Industrialisierung versuchen sie, ihre Abhängigkeit als Rohstoffexporteure (Erdöl und Erdgas, Mineralien, Agrarprodukte) zu verringern. Doch durch Covid-19 und Russlands Krieg gegen die Ukraine sind sie schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Krieg führt den Ländern der Region zudem vor Augen, dass sie selbst im Fokus zukünftiger Konflikte zwischen Russland, dem Westen und China stehen werden. Das nährt westliche Hoffnungen, im Windschatten des Ukrainekriegs und der Probleme Moskaus als geopolitisches Gegengewicht weitere politische und wirtschaftliche Geländegewinne zu erzielen, trotz der zweifelhaften menschenrechtlichen und demokratischen Credentials der autokratischen Regime. “The United States and Europe should not miss the chance to quietly but energetically exploit Russia’s colossal strategic mistake“, rät der Foreign Policy-Kommentar.

Werben

So traf sich Präsident Joe Biden Mitte September 2023 in New York mit seinen Amtskollegen aus der Region. Bei diesem ersten Gipfeltreffen der zentralasiatischen Regierungen und der US-Administration wurden Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftszusammenarbeit besprochen, heißt es. Ganz konkret ging es unter anderem um die Aufnahme eines „Critical Minerals Dialogue“. Insbesondere Kasachstan und Usbekistan verfügen über wichtige Ressourcen für den geopolitischen Machtpoker. Es geht aber auch darum auszuloten, welche Spielräume sie zwischen Russland und China haben, mit denen enge Beziehungen und Abhängigkeiten bestehen.

Natürlich versucht auch Europa, das „Tauwetter“ für sich zu nutzen. Unter anderem tourten in den vergangenen zwölf Monaten Außenministerin Annalena Baerbock auf der Suche nach Lieferanten für grünen Wasserstoff, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der außenpolitische Sprecher der EU, Josip Borrell in der Region. Im Oktober 2022 und Juni 2023 fanden Gipfeltreffen der EU mit zentralasiatischen Regierungen statt, im November vergangenen Jahres eine EU-Central Asia Connectivity Conference.

„German foreign policy is strongly related to the European regional strategy. The country served as the architect of the European Union’s Strategy for Central Asia.“

Rustam Kayumov, Center for European Studies, Tashkent, Uzbekistan

Insbesondere die Bundesregierung gilt als „architect of the European Union’s Strategy for Central Asia“, wie der usbekische Europaexperte Rustam Kayumov einschätzt. Das Team Europa verspricht Hilfe, die Abhängigkeit von russischen und chinesischen Investitionen und Handel zu verringern, und kündigt an, staatliche Souveränität und Unabhängigkeit zu stärken. EU-Außenpolitiker Josip Borrel biederte sich an, Europa und Zentralasien würden gleichermaßen „strategische Autonomie“ anstreben, die unter anderem durch den angebotenen Wirtschaftskorridor erreicht werden könne.

Der Westen kann dabei auch an militärische Zusammenarbeit mit Ländern in Zentralasien anknüpfen, die mit dem Afghanistan-Einsatz begann und mit ‚Sicherheit und Stabilität’ und dem Kampf gegen Drogenhandel und Terrorismus gerechtfertigt wurde. Über Militärbasen in Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan wurden für die Truppen der International Security Assistance Force ISAF Lufttransporte abgewickelt. Besonders eng sind die Beziehungen mit Kasachstan. Das Schwergewicht in der Region führte seit 2006 jedes Jahr die Militärübung ‚Steppen-Adler’ unter Beteiligung von US- und NATO-Einheiten sowie regionalen Verbänden durch, bis Corona eine Feuerpause erzwang. Die USA möchten gegen den Widerstand Russlands dieses „Partnerschaftsprogramm für Frieden“ wieder aufnehmen.

Sorgen

Wirtschaftlich sind die Annäherungsversuche westlicher Geostrategen für China nicht sonderlich gefährlich, handelt es sich doch meist um Ankündigungen, Versprechungen und Visionen wie die EBRD-Studie. Anders sieht es mit einem möglichen militärischen Vorrücken der NATO bis an die gemeinsame Grenze von China mit Kasachstan, Tadschikistan und Kirgistan aus. So rollte auch Beijing den fünf zentralasiatischen Präsidenten Mitte Mai beim ebenfalls ersten Gipfeltreffen den roten Teppich aus. Und China strickt ebenfalls gemeinsam mit den Regierungen Zentralasiens am Mittleren Korridor, bislang mit geringen Fortschritten. Die Herausforderungen sind zum einen logistischer Natur wie die Kombination von Land und Seeweg,  unterschiedliche Spurweiten, Häfen, die für den Umschlag großer Gütermengen noch ausgebaut und ausgerüstet werden müssen, unterschiedliche Vorschriften und Gesetze, Zollbestimmungen und Tarifpolitik. Dazu kommen politische Streitigkeiten zwischen einzelnen Länder und die ungeklärte Zukunft der nach wie vor engen Beziehungen zu Russland, mit dem beispielsweise Kasachstan und Kirgistan in der Eurasischen Economic Union eng verflochten sind.

So ist nicht klar, ob die zentralasiatischen Länder ein Bindeglied zwischen China, Russland und Europa sein können, wie sie es sich wünschen und wozu der Mittlere Korridor beitragen könnte – wenn er denn je Realität werden sollte. Oder ob sie in den Kämpfen und Konflikten um politischen Einfluss und Kontrolle über Räume und Ressourcen zerrieben werden. So werden sie nicht nur mit grandiosen Plänen für Infrastrukturinvestitionen geködert, sondern auch mit sekundären Sanktionen wegen ihrer Kooperation mit Russland gestraft. Und auch Beijing beherrscht die Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Außerdem sollten die Strategen, die von der „dynamischen“ geopolitischen Situation profitieren wollen, nicht zu voreilig sein. Eine alte Regel lautet, man soll das Fell des Bären nicht verteilen, solange er noch lebt.

Siehe dazu auch die Beiträge ‚IMEC: Geopolitik mit Wirtschaftskorridoren‘ über den geplanten Wirtschaftskorridor von Indien durch den Mittleren Osten nach Europa und ‚Zentralasien: Vorwärtsverteidigung der Freiheit‘.

Schreibe einen Kommentar