Zentralasien: Vorwärtsverteidigung der Freiheit

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, 19. November 2022

Die euro-transatlantische Sichtweise auf die russische Invasion in der Ukraine blendet weitgehend deren Bedeutung für Zentralasien aus. Das martialische Stoppsignal des Kremls für eine weitere Expansion der NATO sollte wohl auch eine Message an Russlands östliche Nachbarn schicken: Wir sind immer noch in der Lage, unseren Einflussbereich und unsere Interessen in der Region zu verteidigen – und damit eure autokratischen Regime. Der Ausgang des Ukraine-Kriegs hat daher auch eine entscheidende Bedeutung für die zukünftige Überzeugungskraft dieser Ansage.

Das System Putin bröckelt

Erst kürzlich noch hatte Moskau der Regierung im zentralasiatischen Kasachstan mit Truppen der Organisation für Kollektive Sicherheit ihre Herrschaft gerettet.  Mit der Mobilmachung der CSTO setzten die Autokraten in Moskau und Kasachstan mal wieder auf die brachiale Lösung gesellschaftlicher Proteste. Kurzzeitig bekam Moskau damit beim selbstbewussten Nachbarland wieder einen großen Stiefel in die Tür. Auch beim Dauerkonflikt zwischen Armenien und Azerbeijan konnte sich Moskau Anfang des Jahres noch einmal als Stabilisator fühlen. Doch die Invasion und die sich abzeichnende Niederlage haben die wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten der regionalen Hegemonialmacht Russland in Frage gestellt, ihr ‚Hinterland’ in Zentralasien zu sichern.

Zum einen eröffnet diese Bedrohung ihrer hegemonialen Stellung in der Region düstere Aussichten, wenn man sich an das brutale Vorgehen erinnert, um das schwindende Imperium beispielsweise in Tschetschenien zu retten. Moskau hat in der Vergangenheit mehrfach unterstrichen, dass es offensichtlich Schwierigkeiten hat, den Anspruch anderer Nachfolgeländer der Sowjetunion wie Georgien, Moldavien oder Armenien als souveräne Staaten und auf territoriale Integrität ernst zu nehmen. Ähnlich wie in der Ukraine sind russische Truppen bereits 2008 in Abchasien und Südossetien einmarschiert, um pro-westliche Ambitionen der georgischen Regierung zu verhindern.  Damals wurde das noch ohne große westliche Proteste hingenommen.

„Das Tauwetter in Russlands Peripherie hat bereits eingesetzt“

Doch das russische Vorgehen kollidiert mit dem zunehmenden nationalen Selbstvertrauen zentralasiatischer Staaten. Sie haben in den vergangenen Jahren als Energielieferanten nicht nur gen China, sondern auch gen Westen vom ungebrochenen Boom mit fossilen Energien und von Beijings Neuer Seidenstraße profitiert und sich von den strukturellen und politischen Abhängigkeiten der Sowjetzeit ein Stück weit befreien können. Die Geschwindigkeit, mit der inzwischen der Ukraine und Moldawien ein beschleunigtes Verfahren für einen EU-Beitritt eröffnet wurde, könnte auch weiter östlich, etwa in Georgien, ähnliche Erwartungen nähren.

Mitte November titelte ein Kommentar auf der Foreign Policy-Seite der Carnegie Endowment for International Peace, „das Tauwetter in Russlands Peripherie hat bereits eingesetzt“. Die Einschätzung mag zwar auch von Wunschdenken geprägt zu sein. Doch die Invasion der Ukraine erweist sich auch hier als strategische Fehlkalkulation. Zumindest stimmt wohl, dass „die geopolitische Landschaft in Eurasien sich als dynamisch erweisen könnte“.

Seiltanz zwischen Russland und dem Westen

Diese ‚neue Dynamik’, die westliche Beobachter sehen (wollen), könnte dem Westen Türen öffnen. Der Krieg führt den Ländern der Region vor Augen, dass sie selbst im Fokus zukünftiger Konflikte zwischen Russland und dem Westen stehen. “The United States and Europe should not miss the chance to quietly but energetically exploit Russia’s colossal strategic mistake“, rät der Foreign Policy-Beitrag. Ein Zeichen an der Wand:  Als es im September 2022 trotz russischer ‚Friedenstruppen’ wieder zu Kämpfen zwischen Armenien und Aserbeidschan kam, war es angeblich die US-amerikanische Diplomatie, die Moskaus Platz als Friedensstifter einnahm: Der US-Außenminister persönlich habe zwischen den beiden Kontrahenten vermittelt. Und Nancy Pelosi, Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, witterte eine Chance und reiste dieses mal nach Yerevan, der armenischen Hauptstadt, um ihre Unterstützung zu verkünden. „Armenia seems to have given up on Russia as a security guarantor and is looking to the West for political support and receiving it“, glaubt Foreign Policy.

Der Westen kann dabei auch an militärische Zusammenarbeit mit Ländern in Zentralasien anknüpfen, die mit dem Afghanistan-Einsatz vor zwei Jahrzehnten begann, und mit ‚Sicherheit und Stabilität’ und dem Kampf gegen Drogenhandel und Terrorismus gerechtfertigt wurde. Über Militärbasen in Kirgistan, Usbekistan und Tajikistan wurden für die Truppen der International Security Assistance Force ISAF Lufttransporte abgewickelt. Nach dem Abzug aus Afghanistan gab es Überlegungen der USA, in Zentralasien auch weiterhin Militärstützpunkte beizubehalten. Mitte August diesen Jahres, während der Krieg in der Ukraine eskalierte, fanden mit Unterstützung des Zentralkommandos der US-Streitkräfte (CENTCOM) Militärübungen mehrerer Streitkräfte aus Zentralasien sowie der Mongolei und Pakistan statt. Eine der Übungsaufgabe: Zurückschlagen einer simulierten Verletzung der Grenze zwischen Tajikistan und Usbekistan.

Besonders eng sind die Beziehungen mit Kasachstan, dem Schwergewicht der Region. Kasachstan führte seit 2006 jedes Jahr die Militärübung ‚Steppen-Adler’ unter Beteiligung von US- und NATO-Einheiten sowie regionalen Verbänden durch, bis Corona eine Feuerpause erzwang. Die USA möchten gegen den Widerstand Russlands dieses ‚Partnerschaftsprogramm für Frieden’ wieder aufnehmen. In einem Beitrag des US-amerikanischen Marshall Center vom März 2018 werden die Erwartungen deutlich formuliert: „Military professionalization in Kazakhstan will have significant impact in assisting the United States with achieving its goals in the region“. Die Kooperation sei ein Baustein für den Ausbau einer wichtigen strategischen Partnerschaft in Zentralasien und werde die Länder in ihrer demokratischen Entwicklung inspirieren.

China – der Elefant im Raum

Richtig dramatisch wird die Lage mit der Perspektive einer direkten Konfrontation mit China, das sich bereits in Südostasien und durch den Wirtschaftskrieg der USA unter Druck sieht. Wirtschaftlich werden die zentralasiatischen Regionen für Beijing, das längst in der Region fest verankert ist, für seine eigene Entwicklung und für die Absicherung gegen westliche Eindämmungsversuche immer wichtiger, nachdem es in Osteuropa in jüngster Zeit viel Sympathien verspielt hat. Ein wichtiges Spielfeld ist dabei die Konkurrenz um Rohstoffe, besonders um fossile Energieträger, die durch die Bemühungen europäischer Ländern, neue Versorgungswege für die russischen Lieferungen zu erschließen, angeheizt wird. So umwerben europäische Politiker Aserbeidschan, um ihre Versorgung zu diversifizieren, wobei wie in anderen Fällen die Kooperation mit autoritären Regimen kein echtes Hindernis darstellt.

„Ein wichtiges Spielfeld ist die Konkurrenz um Rohstoffe, besonders um fossile Energieträger.“

Für die meisten Länder in Zentralasien ist China bislang als Investor und Handelspartner die attraktivere Alternative zur erratischen, schwerfälligen Europäischen Union oder zur Türkei, die sich verstärkt bemüht, den schwächelnden russischen Bären ein Stück weit abzulösen. Besonders für Kasachstans angestrebte autoritäre Modernisierung sind Chinas Digitalisierung und Stärkung staatlicher Unternehmen ein Vorbild. Kein Zufall, dass Xi Jinpings erste Auslandsreise seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie in die kasachische Hauptstadt führte, verbunden mit Anspielungen an Russland, Kasachstan nicht zu destabilisieren. Als hilfreiches Gegengewicht gegen allzu große Übergriffigkeit sowohl durch China als auch durch Russland können die zentralasiatischen Regierungen jetzt aber verstärkt die Karten ‚westliche Wirtschaftsbeziehungen’ und ‚Aussicht auf militärischem Beistand’ einsetzen.

Eine spannende Frage ist, wie Russland und China ihre ‚grenzenlose Freundschaft’ angesichts unterschiedlicher Interessen, aber gewichtiger Gemeinsamkeiten jetzt vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine definieren. Eine zentrale Rolle wird dabei spielen, wie europäische und vor allem US-amerikanische Politiken ihre Präsenz vorantreiben, die sowohl die russische als auch die chinesische regionale Hegemonie und damit die Perspektive einer multipolaren Weltordnung bedrohen. Mit der Wiederbelebung der Heartland-Theorie aus dem frühen 20. Jahrhundert, nach der die Kontrolle über Zentralasien die Weltherrschaft sichern würde, sind Hardliner in Moskau und Beijing gerade dabei, eine Festungsmentalität zu zementieren, nach dem Motto: ‚Wenn Russland und China zusamm’ marschier’n’, …..

One finger at the button will be green

Es sieht denn auch nicht so aus, als ob sich die Auswirkungen des Ukrainekrieges lediglich „dynamisch“ entwickeln. Vielmehr könnten sich die regionalen und geopolitischen Konfliktfelder hierher verlagern und verschärfen.

„Man kann darüber streiten, ob die Visite von Außenministerin Baerbock ein Besuch zur falschen Zeit am falschen Ort war.“

Genau dort versuchte jetzt Außenministerin Annalena Baerbock mit ‚werteorientierter Außenpolitik’ Flagge zu zeigen. Mit ihrer Stippvisite bei den Autokraten in Kasachstan und Usbekistan eskaliert sie die Ressourcenkonflikte in Russlands Hinterhof. Sie hofft nicht nur auf Ersatzlieferungen für russisches Erdgas und mittelfristig auf grünen Wasserstoff, der ab 2030 mit Windrädern und dem Wasser aus dem Kaspischen Meer produziert werde könnte. Usbekistan bietet zudem mit Seltenen Erden und Kupfer auch Stoff für die E-Mobilität. Mit Global Gateway glaubt die EU, mit Chinas Belt&Road konkurrieren zu können. Die Ankündigung von Wirtschaftsbeziehungen, die „fair, auf Augenhöhe, ohne Knebelkredite und ohne versteckte Agenda“ wären, geht dabei klar gegen China.

Man kann darüber streiten, ob diese Visite diplomatisch klug war oder ein Besuch zur falschen Zeit am falschen Ort. Auf jeden Fall ist sie ein Signal, dass sich Deutschland und die EU in der explosiven Gemengelage auch gerne positionieren möchten. Die Beteuerung, dass eine engere Kooperation mit den zentralasiatischen Staaten nur mit einer ‚werteorientierten Politik’ möglich sein wird, klingt angesichts der potentiellen zentralasiatischen Partner und sonstiger Erfahrungen mit der Umarmung autoritärer Regime allerdings reichlich hohl. Wie es aussieht, wird nicht die Freiheit am Kaspischen Meer gefördert, sondern im Schatten des Ukraine-Kriegs eher ein weiterer Schritt in Richtung Blockbildung und geopolitischer Eskalation unternommen.

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