China, Geopolitik und der Globale Süden
Uwe Hoering, 20. Juni 2024
„Viele der Institutionen und Grundsätze, die derzeit die internationale Governance prägen, wurden für eine Welt konzipiert, die ganz anders war als die heutige“, heißt es in einem hellsichtigen UN-Bericht über den „Aufstieg des Südens“ (UNDP 2013). Doch viele Verteidiger der alten Weltordnung wollen die notwendigen Anpassungen in der internationalen Governance an eine veränderte Welt nicht akzeptieren. Und so eskalieren die daraus resultierenden Konflikte.
Im Folgenden zunächst, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Charakteristika der ‚heutigen Welt’, bei deren Ausformung China ohne Frage eine entscheidende Rolle als Katalysator gespielt und Prozesse in Gang gesetzt hat, die die alte Ordnung zum Tanzen bringen:
Zauberlehrling China
Erstens: Eine grundlegende Veränderung wurde ausgelöst durch die Finanzkrise 2008, die das Fundament und das Vertrauen in die Rationalität der neoliberalen Globalisierung und die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA in der Weltordnung erschütterte. Daraufhin verstärkte China unter kreativer Nutzung der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung seine Bemühungen, die Globalisierung nach seinen Vorstellungen und Interessen umzubauen – nach seinem eigenen Narrativ, um sie ‚zu retten’ (Hoering 2022). Durch die Neuen Seidenstraßen wurden ihre infrastrukturellen Adern ausgeweitet und neue diversifizierte Handelswege und Produktionsketten aufgebaut. Chinesische Konzerne wurden weltweit zu ernstzunehmenden Konkurrenten in Regionen, die als traditionelle postkoloniale Domänen und Einflusssphären der einstigen Kolonialmächte fungierten. Das Ergebnis ist eine Globalisierung mit einer deutlichen chinesischen Handschrift.
Zweitens: Gleichzeitig wurde China zum Vorbild und Wegbereiter einer industriellen Modernisierung der fossilen Wirtschaft, in der ‚strategische Rohstoffe’ einen zentralen Stellenwert für einen weiteren Globalisierungsschub durch erneuerbare Energien und Digitalisierung, aber auch für eine Militarisierung bekommen. Hierbei hat nicht nur China die Pole-Position bei der Produktion von Verarbeitungs- und Endprodukten. Auch der neue ‚Ressourcennationalismus’ von Ländern des Globalen Südens als Lieferanten der dafür erforderlichen Ressourcen transformiert die herkömmliche Verflechtung zwischen Globalem Norden und Globalem Süden in eine extraktivistische Globalisierungskonkurrenz (Brand/Wissen 2024).
Drittens: Damit stärkte China nicht nur seine eigene Position und emanzipierte sich aus seiner subalternen, abhängigen Integration in die neoliberale Globalisierung als ‚Werkstatt der Welt’, sondern eröffnete auch durch Zugang zu Märkten, Investitionen und Technologien neue Spielräume für andere Länder des Globalen Südens. Deren Gewicht in der Weltwirtschaft ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich gewachsen, was sich unter anderem an ihrem gestiegenen Anteil am Bruttosozialprodukt oder in den globalen Handelsbeziehungen zeigt.
Durch diese geoökonomischen und –politischen Veränderungen wurde die Globalisierung sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt: Der geopolitische Westen dominiert immer weniger die globale Wirtschaft. Dabei handelt es sich weniger um eine Deglobalisierung, als vielmehr um eine Verschiebung in den Strukturen der globalen (staats)kapitalistischen Konkurrenz, allerdings mit einer deutlichen Schwerpunktverlagerung auf China beziehungsweise Asien und mit grundlegenden Veränderungen der Bedingungen, eine ‚imperiale Lebensweise’ (Brand/Wissen 2017) in den Industrieländern aufrecht zu erhalten.
Der Nationalstaat als geopolitischer Akteur
Viertens: Chinas staatszentrierte und –gestützte Entwicklungsstrategie stärkte eine weltweit zu beobachtende ‚Rückkehr des Staates’ (Altvater 2010), die sich unter anderem in einer ‚aktiven Industriepolitik’ auch in Industrieländern zeigt. Damit verschiebt sich das Verhältnis zwischen Staat und Kapital, zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen, zwischen „nationaler Sicherheit“ und ökonomischer Effizienz, wenn auch in den verschiedenen Ländern und Bereichen in unterschiedlicher Ausprägung. Die Aufwertung der Rolle von Nationalstaat und Souveränität gegenüber äußerer Einmischung, die Beijing wie eine Monstranz vor sich her trägt, knüpft an die Bestrebungen von Ländern des Globalen Südens seit der Bandung-Konferenz 1955 nach einer selbstbestimmten Entwicklung an, die postkoloniale Strukturen und Abhängigkeiten verändert.
Fünftens: Auf der Ebene der internationalen Governance drücken sich diese Verschiebungen in neuen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen und Bündnissen wie der Neuen Entwicklungsbank, dem regionalen Wirtschaftsabkommen RCEP im asiatisch-pazifischen Raum, zwischenstaatlichen Finanzmechanismen, um die Abhängigkeit vom US-Dollar zu verringern, der eurasischen Shanghai Cooperation Organisation SCO oder BRICSplus aus. Teils wurden sie von China initiiert oder dominiert, vielfach aber auch wie BRICS von weiteren Ländern wie den Schwellenländern Brasilien, Russland, Indien und Südafrika. Hier entwickeln sich „parallele“ Strukturen, in denen neben China auch zahlreiche weitere selbstbewusste Länder des Globalen Südens und teils sogar Partnerländer des geopolitischen Westens wie Australien oder Neuseeland vertreten sind.
„Welch entsetzliches Gewässer!“
Damit verschieben sich die Machtverhältnisse und Ordnungsvorstellungen in den bestehenden multilateralen Institutionen der ‚alten Ordnung’ wie den Vereinten Nationen oder Weltbank und Internationaler Währungsfonds und durch neue Institutionen und Grundsätze, was durch die Mächte der ‚alten Ordnung’ nicht mehr ignoriert werden kann. Aber mit welchem Zauberspruch kann der außer Rand und Band geratene ‚Besen’, durch den die Weltordnung durcheinander gewirbelt wird, wieder gebändigt werden? Und zwar ohne wie bei Goethes Zauberlehrling zur Ordnung durch den „alten Meister“ zurückzukehren?
Ein Problem ist, dass Teile der überkommenen und der neuen Ordnungen sich nicht gut untereinander vertragen. Dazu gehört zum Beispiel die Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die Vorstellungen einer Ordnung gleicher und souveräner Staaten widerspricht, oder die unterschiedliche Auslegung der Universalität von Menschenrechten und demokratischen politischen Rechten. Zudem wurden Institutionen und Grundsätze der Nachkriegsordnung teils von den selben Mächten, die sie einst geschaffen hatten, ausgehöhlt, diskreditiert oder nur halbherzig reformiert. Daraus resultieren tiefe Risse und statische Probleme. Einvernehmlich akzeptierte Grundlagen, um Konflikte oder Spannungen zu vermitteln, sind immer weniger tragfähig. Diese Zerrüttung internationaler Governance wird teils – eher verharmlosend – als neue „Unordnung“ bezeichnet, teils gar als „Zerfall jeglicher Ordnung“ (Goldberg 2013). In der Tat bestehen gravierende Bruchlinien und Frontstellungen einer „organischen Krise“ (Gramsci):
Erstens handelt es sich gegenwärtig an Stelle der kurzlebigen Vorstellung eines „einheitlichen Weltmarkts“ (Goldberg 2013) um eine neue, zersplitterte Form der Globalisierung, um „Fragmentierungen“ (IMF 2023) im Finanzbereich, des Weltmarkts, von Handels- und Produktionsketten. Sie werden geprägt durch nationalstaatliche Konkurrenz und geopolitische Interessen, umgesetzt in Strategien der Eindämmung der Konkurrenz, der Risikominderung und des Protektionismus, der Abschottung von Einflussbereichen.
Zweitens entstand eine tiefe Spaltung, was jeweils unter ‚internationaler Ordnung’ verstanden wird und wer sie bestimmt. So wurde die ‚liberale internationale Ordnung’ durch eine willkürliche ‚regelbasierte Ordnung’, eine selbsternannte „Wertegemeinschaft“ oder – von Seiten Beijings – eine postulierte „Schicksalsgemeinschaft“ ersetzt. Holzschnitthaft werden die unterschiedlichen Positionen zum Konflikt zwischen „Demokratie und Autoritarismus“ stilisiert.
Drittens gerät die Übersichtlichkeit der einstigen Weltordnung durch den durch China dynamisierten „Aufstieg des Südens“ aus den Fugen: War die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst mehr oder minder säuberlich in West und Ost und die sogenannte Dritte Welt geteilt, wurde sie nach dem Ende des sozialistischen Blocks zu einer unipolaren Ordnung verengt , dominiert durch die USA. Heute gibt es mit China und den USA nicht nur zwei Pole, die auf dem Weg zu zwei Blöcken wie im Kalten Krieg zu sein scheinen, sondern eine Zersplitterung der Machtverhältnisse auf eine Vielzahl von Ländern und fluktuierende, diverse Allianzen und Bündnisse unterschiedlicher Potenz. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung einer hegemonialen Dominanz, angeführt durch die USA oder China, und das Streben nach ‚strategischer Autonomie’ oder ‚active non-alignment‘.
Viertens werden durch die US-amerikanische Verteidigung ihrer gewohnten Vormachtstellung, durch Chinas Bemühungen, sich einer empfundenen Bedrohung erwehren zu müssen, und die Aufrüstung weiterer Akteure wie Japan und Europa Militarisierung und Wettrüsten angeheizt. Zündstoff, dass daraus eine weitere kriegerische Eskalation wird, gibt es zur Genüge.
Dem Multilateralismus eine Chance?
In dieser komplexen, fragmentierten, konfliktbestimmten und tendenziell gewaltförmigen Gemengelage eine ‚neue Ordnung’ unter Verwendung der nach wie vor tragfähigen Bauteile der alten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ordnung und der Akzeptanz der neu entstandenen Institutionen und Grundsätze zu errichten, ist eine immense Herausforderung. Das müsste gemeinsam, multilateral geschehen, etwa auf der Grundlage der UN-Charta. Ansatzpunkte dafür wie bestehende multilaterale Institutionen, das internationale Recht, das in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurde, Rechtsinstitutionen wie die internationale Gerichtsbarkeit oder Konzepte einer Neuen Weltwirtschaftsordnung gibt es längst. Und die Notwendigkeit, die bestehenden Konflikte in einer wie auch immer gearteten veränderten internationalen Ordnung zu vermitteln, findet durchaus breite Zustimmung. Grundlegend dafür wäre aber anzuerkennen, dass sich die Welt geändert hat und einseitige hegemoniale Vorstellungen nicht mehr durchsetzbar sind. Den ganzen Bau stattdessen einzureißen, wäre ohne Frage die falsche Strategie, auch wenn sie immer wahrscheinlicher wird.
Dieser Beitrag ist eine thesenartig zugespitzte Fassung eines längeren Beitrags, der demnächst in ‚Vielfachkrise. Destruktive Dynamiken der nationalen und internationalen Krisenentwicklung’, herausgegeben von Helmut Kellershohn und Wolfgang Kastrup, Edition DISS 53, erscheinen wird.
Literatur:
Brand, Ulrich / Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus
Brand, Ulrich / Wissen, Markus 2024: Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven
Goldberg, Jörg 2023: Weltordnung zwischen Globalisierung und Nationalstaaten. In: Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Themenschwerpunkt: Wessen Weltordnung? Globale Kräfteverschiebungen), Nr. 134, Juni 2023, 18-27
Hoering, Uwe 2022: Internationalisierung des chinesischen Ordnungsmodells? Geopolitische Konflikte und die Belt and Road Initiative, in: PROKLA 208, 409-427
IMF 2023: Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism. Staff Discussion Note 2023/001. Washington DC
UNDP 2013, Human Development Report 2013, The Rise of the Global South. Human Progress in a Diverse World