Zündeln im Südchinesischen Meer

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, 11. Juli 2024

Die Lage ist ernst in Südostasiens Gewässern, die gemeinhin als Südchinesisches Meer bezeichnet werden, aber nicht hoffnungslos. Ernst, weil mit den Scharmützeln zwischen China und den Philippinen an einer neuen Lunte für einen Sprengsatz gebastelt wird. Doch nicht hoffnungslos, weil hier eigentlich niemand Interesse an einem kriegerischen Konflikt haben kann.

Gordischer Knoten

Das südostasiatische Staatenbündnis ASEAN verbreitet mal wieder Optimismus, dass es binnen zwei Jahren die Gespräche mit China über einen Verhaltenskodex abschließen kann, um die Konfliktrisiken im Südchinesischen Meer abzubauen. Die Konflikte sind alt. Die meisten Länder erheben Forderungen auf Teile des Seegebiets mit seinen vielen Inseln. Das sind historische Ansprüche, wie sie China mit seiner ’10- beziehungsweise 9-Dash Line‘ geltend macht. Das sind Rechte aus den internationalen Regelungen über Hoheitsgewässer und Wirtschaftszonen. Das sind vor allem auch materielle Interessen an Ressourcen wie Fisch, Erdöl und Erdgas.

Jahrzehntelang köchelten die Konflikte in der Region, durch die ein erheblicher Teil des Welthandels auf dem Seeweg verläuft, meist auf kleiner Flamme vor sich hin, gelegentlich wurden sie auch heiß wie zwischen Vietnam und China 1974 um die Paracel-Inseln. Alle Anrainerstaaten schlugen ihre Pflöcke ein, indem sie Inseln besetzten, Stützpunkte ausbauten, Land aufschütteten, am erfolgreichsten das mächtige China. Dazu gehört auch die sprachliche Inanspruchnahme: Was gemeinhin als Südchinesisches Meer gilt, ist von Manila aus das westphilippinische Meer, von Hanoi aus das Ostmeer. Doch immer gab es auch Bestrebungen, den Gordischen Knoten aufzudröseln und Verhaltensregeln auf der Grundlage regionaler Vereinbarungen und des internationalen Rechts aufzustellen

Dazu kam es bislang nicht. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen. Zwei der vielen Untiefen, an denen eine Einigung scheitert: Rechtsverbindliche Regelungen lehnt Beijing bislang ab. Und viele Regierungen der zehn ASEAN-Länder zögern, Partei zu ergreifen, das heiße Eisen anzupacken, um es sich mit keiner Seite, also weder mit Beijing noch mit Vietnam oder den Philippinen zu verscherzen. Aber die gegenwärtige Eskalation um die Spratly-Inseln macht es immer drängender, eine friedliche Verlaufsform zu finden.

Fakten schaffen, bislang ohne Waffen

Inzwischen fordern Anrainerländer die chinesischen Ansprüche immer offener heraus. Vietnam, Malaysia und Indonesien erschließen Erdöl- und Erdgasfelder in umstrittenen Seegebieten. Vor allem aber macht die Regierung von Präsident Ferdinand Marcos Jr in Manila, seit Sommer 2022 im Amt, ihre Ansprüche nachdrücklich geltend, nachdem die Politik jahrzehnlang eher darauf setzt, Beijing nicht zu provozieren. Gestärkt wurde Manilas Position durch den Schiedsspruch des Internationalen Seegerichtshofs im Juli 2016, der von Beijing nicht anerkannt wird. Die Küstenwachen und Fischerboote beider Länder verwickeln sich immer häufiger in Scharmützel um das Atoll Second Thomas Shoal, die Rhetorik wird immer martialischer. Die philippinische Regierung hat dabei die Rückendeckung der USA, mit denen ein Beistandspakt besteht. Die militärische Zusammenarbeit wird mit neuen US-amerikanischen Stützpunkten, Rüstungslieferungen und Manövern ausgebaut (siehe Newsletter 27/Januar 2024). Gleichzeitig werden Präsident Marcos Ambitionen nachgesagt, das Land zu einer regionalen Macht machen zu wollen. Auf der anderen Seite bemüht sich die Regierung aber auch um gute Beziehungen zu China, dem mit Abstand wichtigsten Handelspartner.

Ganz anders das Verhältnis zwischen China und Vietnam, obwohl auch hier die Interessengegensätze hart aufeinander prallen. Vietnam hat auf den Spratly-Inseln Häfen und andere Infrastruktur massiv ausgebaut, ohne dass es aus Beijing zu ähnlich harschen Reaktionen wie um das Second Thomas Shoal gekommen ist. Denn trotz verbesserter Beziehungen zu den USA hat Hanoi nie Zweifel daran aufkommen lassen, dass es an einer neutralen Außenpolitik festhält. Ähnlich nutzen die meisten anderen ASEAN-Länder die Konkurrenz zwischen China und den USA für einen selbstbewussten sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Balance-Akt.

 „Generalprobe für Taiwan“

Insbesondere die Ansprüche der Volksrepublik China, die übrigens von Taiwan geteilt werden, sind durchaus kontrovers, um nicht zu sagen fragwürdig. Zur starren Haltung und Zuspitzung von Konflikten trägt aber auch die Reaktion der USA auf die Weigerung Chinas bei, sich zu den Bedingungen des Westens als Juniorpartner in die internationale Ordnung zu integrieren. Die Ankündigung einer verstärkten militärischen, wirtschaftlichen und politischen Präsenz in der asiatischen Pazifikregion durch die Regierung von Präsident Obama vor einem Jahrzehnt (‚Pivot to Asia’) weckte in Beijing Befürchtungen vor Eindämmung und Einkreisung. Seitens der USA wurde die Region seither zu einem Testfall für die von ihnen definierte neue regelbasierte Weltordnung erklärt: Stichwort ‚Free and Open Indo Pacific’, obwohl der freie Handel zu keinem Zeitpunkt durch die regionalen Streitigkeiten bedroht war. Jetzt werden Nationalismus und Aufrüstung, insbesondere der chinesischen Seestreitkäfte, als Bestätigung der These einer Bedrohung durch China interpretiert.

Damit bekommt die ‚Island Chain Strategy’, eine Kette von Marinestützpunkten, die in den 1950 Jahren von den USA während des Koreakriegs als „Verteidigungslinie“ gegen die Sowjetunion und China konzipiert war, aktuelle geopolitische und militärstrategische Relevanz: Jetzt wird das Südchinesische Meer aus der Sicht Beijings für den Fall einer weiteren Eskalation zum Vorfeld, zum Puffer vor den Küstenregionen von Festlandchina mit ihren Industriegebieten. Und die Region, mit den Philippinen in vorderster Front, zu einem weiteren Schauplatz des Showdowns zwischen den USA und China.

„The question of Philippine territorial integrity would be superseded by the question of maintaining U.S. primacy in the Western Pacific“, urteilt Sebastian Strangio in der Juli-Ausgabe von The Diplomat Magazine. Der frühere Berater der US-Regierung für Nationale Sicherheit,  Matt Pottinger, der als Trump-Buddy gilt, stilisiert die Scharmützel um das Second Thomas Shoal bereits zu einer chinesischen „Generalprobe für Taiwan“ und fordert für die Unterstützung der philippinischen Präsenz auf dem Atoll eine „Luftbrücke“ wie für Berlin im Kalten Krieg. In dieser unübersichtlichen Gemengelage zeigen dann auch noch bundesdeutsche Streitkräfte stolz Flagge.

Die Situation in der Region ist also zwar hoffnungslos verfahren, aber eigentlich nicht ernst. Wirklich ernst würde es erst, wenn sich die Regierungen durch den Großkonflikt zwischen China und den USA in einen weiteren regionalen Krieg treiben lassen würden. Mit den Auseinandersetzungen mit den Philippinen gibt es dafür neben Taiwan einen zweiten Zünder, der jederzeit losgehen kann, auch wenn eigentlich niemand in der Region Interesse daran haben kann.

Siehe Renato Cruz De Castro, Exploring the Philippines’ Evolving Grand Strategy in the Face of China’s Maritime Expansion: From the Aquino Administration to the Marcos Administration. In: Journal of Current Southeast Asian Affairs 2024, Vol. 43(1), 94–119

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