China, Geopolitik und der Globale Süden
Gastbeitrag von Timo Daum, 11. März 2024
„China assumed the moral high ground as compared with the United States and spurred even more hope that China would become the new global leader on climate change.”
Li Yifei und Judith Shapiro, China goes green, 2020
Dadurch, dass die chinesische Regierung im Unterschied zum US-Präsidenten Donald Trump 2015 das Pariser Klimaabkommen unterzeichnete, habe China nach Einschätzung von Li Yifei und Judith Shapiro, Spezialist:innen für chinesische Umweltpolitik, „im Vergleich zu den Vereinigten Staaten die höhere Moral bewiesen und Hoffnungen verstärkt, dass es der neue weltweite Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel werden würde“.
Die „Drei Neuen“ Technologien
Diese Entwicklung war nur möglich, weil China seit etwa 2010 eine konsequente Förderung der „Drei Neuen“ ‚grünen’ Technologien unternimmt. Unter diesem Schlagwort fassen chinesische Medien Solarzellen, Lithium-Ionen-Batterien und Elektrofahrzeuge zusammen – drei Bereiche, in denen China zum Weltmarktführer geworden ist.
2015 machte die Partei- und Staatsführung in ihrem Modernisierungsprogramm Made in China 2025 die kühne Vorgabe, in zehn Sektoren innerhalb von zehn Jahren weltweit die Spitze zu erklimmen – darunter Solarenergie, Windkraftanlagen und Elektroautos. Heute entfallen mehr als 80 Prozent der weltweiten Solarzellenexporte, mehr als 50 Prozent der Lithium-Ionen-Batterien und mehr als 20 Prozent der Elektrofahrzeuge auf China.
Die installierte Photovoltaik-Leistung lag 2021 in China bei insgesamt 309 Gigawatt und damit fast so hoch wie in den USA und der Europäischen Union zusammen. Allein in diesem Jahr wird China so viel Solarkapazität neu installieren wie Deutschland in den vergangenen 25 Jahren.
Ähnlich sieht es bei der Windenergie aus: 2012 wurde China zum weltweit größten Nutzer und überholte die USA, gemessen an der installierten Leistung. Von 2014 bis 2021 verdreifachte sich die Gesamtkapazität auf 282 Gigawatt.
Zwar baut das Land gleichzeitig auch neue Kohlekraftwerke, die allerdings in erster Linie alte ersetzen sollen. Trotzdem wird China möglicherweise 2024 weniger CO2 emittieren als 2023. Bis zur vollständigen Dekarbonisierung der Energieproduktion, zu der sich China für 2060 verpflichtet hat, ist es jedoch noch ein weiter Weg.
Mit E-Mobilität zum Ziel
Eine der Straßen, die zu diesem Ziel führen sollen, ist Chinas Aufstieg zum führenden Anbieter von Elektrofahrzeugen. Drei Überlegungen veranlassten Mitte der 2000er-Jahre die chinesische Führung unter Staats- und Parteichef Hu Jintao, die E-Mobilität zu fördern: Das Land sollte unabhängiger von Ölimporten und die Luftqualität insbesondere in Städten verbessert werden, obendrein bot die batterieelektrische Technologie die Chance, dass chinesische Unternehmen anders als in der Verbrennungsmotortechnik Weltmarktführer werden können. Dieser Aufstieg wurde großzügig staatlich unterstützt. Und auch die weltweite Expansion chinesischer Autobauer steht auf der Agenda der Partei- und Staatsführung.
Die Rechnung scheint aufzugehen: Der Anteil heimischer Hersteller bei Elektroautos liegt bei den angepeilten 80 Prozent, Tesla hat einen Marktanteil von derzeit 13 Prozent. Die restlichen sieben Prozent teilen sich etablierte Hersteller aus Europa und den USA. Was mit Verbrennungsmotoren nie gelang, jetzt klappt es: Chinesische E-Autos dominieren den Binnenmarkt mit 80 Prozent Marktanteil – dank entschiedener Industriepolitik.
Nicht nur bei E-Autos ist China die Nummer eins, auch bei der Elektrifizierung des öffentlichen Nahverkehrs ist China Vorreiter. Die Fahrzeuge stammen aus heimischer Produktion und die Hersteller beherrschen die gesamte Wertschöpfungskette.
Die chinesische Ökonomin Keyu Yin fragt angesichts dieser Dynamik: „Wie ist es möglich, dass ein Entwicklungsland wie China innerhalb weniger Jahre sowohl zum größten Verbraucher als auch zum größten Produzenten von Elektrofahrzeugen wird?“ Die an der London School of Economics lehrende Forscherin gibt auch gleich die Antwort: „Es ist die Kombination aus staatlicher Führung auf der Makroebene und Marktmechanismen auf der Mikroebene, die Chinas schnelles Wachstum erklärt.“
Damit wurden die Grundlagen für ein lukratives Exportmodell gelegt. Die neuen chinesischen Auto-Unternehmen zielen zunehmend auf den Weltmarkt. Ziel ist der europäische Markt, vor allem aber der Globale Süden, mit der Folge, dass China möglicherweise nicht nur das eigene Land, sondern insbesondere den Globalen Süden gleich mit elektrifiziert.
Chinas Modell eines „staatlich geführten, zwanghaften, autoritären Stil der Umweltpolitik wird zum globalen Treiber eines ‚Grünen Kapitalismus'“.
Li Yifei und Judith Shapiro, China goes green, 2020
Seidenstraßen für E-Mobilität
China hat 2022 Deutschland bei den Automobilexporten überholt und ist in 2023 auch an Japan vorbeigezogen. 60 Prozent aller weltweit hergestellten Elektrofahrzeuge (Hybrid und batterieelektrisch) werden in China gebaut, 2023 waren es 9,5 Millionen. Damit ist China zum weltweit größten Automobilexporteur geworden. Zuletzt deutet sich an, dass China auch seine Elektrifizierungs-Agenda des öffentlichen Nahverkehrs im Globalen Süden vorantreiben will.
Im Jahr 2022 übertrafen Chinas Exporte in den Globalen Süden erstmals diejenigen in die G20-Staaten. 2023 exportierte China einen höheren Warenwert in die Länder der neuen Seidenstraßen als in die Europäische Union, die USA und Japan zusammen.
Chinas ‚grüne‘ Energieindustrie wird in den nächsten Jahren entlang der „Neuen Seidenstraßen“ und anderer Verbindungen versuchen, den Globalen Süden zu elektrifizieren. Die „Grüne Seidenstraße“ ist ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Unterthema der Belt and Road-Initiative, das darauf abzielt, Pekings grüne Referenzen aufzupolieren und seinen Anspruch auf globale Führungsrolle in Umweltthemen voranzutreiben. Chinas Modell eines „staatlich geführten, zwanghaften, autoritären Stil der Umweltpolitik“, der sich auf die technisch-politischen Interessen des Landes konzentriert, „wird so zum globalen Treiber eines ‚Grünen Kapitalismus'“, so Li und Shapiro.
Zielmarkt Afrika
Längst hat China die EU und die Vereinigten Staaten als bedeutendsten Wirtschaftsakteur in Afrika überholt. Heute ist es die wichtigste Quelle ausländischer Direktinvestitionen auf dem Kontinent. Darüber hinaus ist China mittlerweile auch Afrikas zweitgrößter Handelspartner nach der Europäischen Union mit einem Umsatz von rund 261 Milliarden Euro im Jahr 2023.
Aus chinesischer Perspektive ist Afrika in erster Linie ein Kontinent mit Entwicklungspotenzial. Dagegen sieht man Afrika hierzulande in kolonialer Tradition nach wie vor in erster Linie als Lieferant von Rohstoffen – von Metallerzen, Erdöl oder neuerdings auch von ‘grünem Wasserstoff’.
Chinas Rezept einer Elektrifizierung des heimischen Marktes für private und öffentliche Fahrzeuge gepaart mit dem Aufbau einer heimischen Industrie, die diese Fahrzeuge liefern kann, ist auch für Länder des Globalen Südens attraktiv. Denn auch afrikanische Staaten setzen zunehmend auf Elektrifizierung, insbesondere beim öffentlichen Verkehr. In Kenia und Nigeria werden erste Schritte in diese Richtung unternommen. Auch Marokko positioniert sich als Produktionsstandort für Elektrofahrzeuge – und chinesische Unternehmen stehen im Mittelpunkt dieser Pläne.
Beispiel Nigeria
In der nigerianischen Hauptstadt Lagos streben die Verkehrsbetriebe die Elektrifizierung ihrer Bus-Flotte an. Die Lagos Metropolitan Area Transport Authority (Lamata) plant in den nächsten sieben Jahren in der größten Stadt Afrikas den Einsatz von 12.000 Elektrobussen – das wäre nach Shenzhen die weltweit größte elektrische Busflotte.
Die Busse werden vom chinesischen OEM Yutong geliefert und vor Ort montiert. Yutong mit Hauptsitz in Zhengzhou in der Provinz Henan ist neben BYD einer der größten Bushersteller der Welt und ist nach eigenen Angaben in fast allen afrikanischen Ländern vertreten. In Nigeria und Äthiopien verfügt Yutong längst über eigene Produktionsstätten. Die Finanzierung der Busse und Ladestationen übernimmt Oando Clean Energy, eine Tochterfirma von Nigerias größtem Energieunternehmen Oando.
Beispiel Kenia
Auch in der kenianischen Hauptstadt Nairobi wird die batterieelektrische Zukunft vorbereitet, dort werden demnächst elektrische Kleinwagen montiert. Im Juli diesen Jahres unterzeichneten das kenianische Elektrofahrzeugunternehmen Autopax und SGMW, ein chinesischer Automobilhersteller, eine technische und Partnerschaftsvereinbarung für die Produktion günstiger Elektrofahrzeuge. Vor Ort soll Autopax das chinesische E-Auto-Modell Wuling Mini unter dem Namen Air Yetu in Lizenz herstellen. In China ist der Wuling Mini eines der beliebtesten Elektroautos und kostet nur umgerechnet 5.000 US-Dollar.
Kenia verfügt heute über eine Stromerzeugungsquote von weit über 70 Prozent aus erneuerbaren Energien, hauptsächlich Geothermie und Wasserkraft, und ein wesentlich stabileres Netz als noch vor Jahren.
Beispiel Marokko
Im nordafrikanischen Marokko lag der Anteil erneuerbarer Energien am elektrischen Leistungsmix bei 38 Prozent (2022). Damit gehört das Land zu den Top 5 der afrikanischen Länder in Bezug auf erneuerbare Energien. Um seine Abhängigkeit von Öl und Gas weiter zu vermindern, strebt die marokkanische Regierung eine Erhöhung der Quote bis 2030 auf mindestens 52 Prozent an.
Auch Marokko wird zum E-Mobilitätsschwerpunkt. Das nordafrikanische Land verfügt über wichtige Mineralien, bietet Steueranreize und kann mit einem Lohnniveau punkten, das weit unter dem des nördlichen Nachbarn Spanien liegt. Zudem ist Marokko als Automobilstandort bereits etabliert, Stellantis und Renault produzieren jährlich etwa eine Million Fahrzeuge. Vor allem die Nähe zum europäischen Markt macht den Standort für chinesische Unternehmen attraktiv.
Unter den Firmen, die dort demnächst produzieren wollen, ist Gotion High-Tech, eine 5,5 Milliarden Euro teure Fabrik zur Herstellung von Batterien für Elektroautos ist geplant. Das Batterie-Startup aus Shenzhen ist hierzulande bekannt durch sein Joint Venture mit Volkswagen, gemeinsam bauen die beiden Unternehmen in Salzgitter eine Batteriefertigung auf. Angekündigt hat sich auch der chinesische Hersteller von Batterieteilen CNGR Advanced Material, der mit einem lokalen Partner zwei Milliarden Euro in eine Fabrikationsanlage investieren will.
Beispiel Brasilien
BYD, der es vom Elektronikbauteile-Zulieferer zum größten Elektroautohersteller der Welt gebracht hat, hat die brasilianische Stadt Camaçari (Bahia) gewählt, um hier sein erstes Werk außerhalb Asiens zu errichten. Das Werk wird eine Kapazität für 150.000 Elektroautos pro Jahr haben. Die Anlage wird die Produktion von Hybrid- und Elektroautos umfassen, eine Einheit, die sich auf Fahrgestelle für Elektrobusse und Lastkraftwagen konzentriert, und eine Einheit, die Lithium und Eisenphosphat für den internationalen Markt verarbeitet. Der Betrieb soll voraussichtlich im Jahr 2024 aufgenommen werden.
Präsident Lula gibt auf Twitter seiner Hoffnung Ausdruck, dass dort „mehr als 10.000 Arbeitsplätze geschaffen und 3 Milliarden R$ (umgerechnet ca. 560 Millionen Euro) investiert werden, was die lokale Wirtschaft ankurbeln und zu einer größeren Produktion von nachhaltigen Fahrzeugen mit sauberer Energie beitragen“ werde.
Woher kommt der Strom?
Unbemerkt von der westlichen Welt sind durch die Bestrebungen von Chinas grüner Energieindustrie, in den kommenden Jahren entlang der „Neuen Seidenstraßen“ und anderer Verbindungen den Globalen Süden zu elektrifizieren, chinesische Unternehmen dabei, einen riesigen neuen Verbrauchermarkt zu übernehmen.
So könnte sich wiederholen, was der Autor von ‚Das asiatische Jahrhundert‘, der aus Singapur stammende Parag Khanna, als „Vorteil des zweiten Spiels“ bezeichnet, und was in Afrika bereits beim ‚Leap frogging’ der Festnetztelefonie passiert ist, die unter anderem von Huawei dominiert wird: Der afrikanische Kontinent ‚überspringt’ die fossile Massenmotorisierung und geht gleich eine elektrische „nachholende Motorisierung in den Schwellenländern“ an.
Ähnlich wie in den Industrieländern steht damit allerdings die Entwicklung der Stromerzeugung und Netzstruktur vor erheblichen Herausforderungen, vor allem, wenn die Produktion nicht nur in den Export in Industrieländer geht, sondern im Globalen Süden verkauft wird. Zwar gibt es Ansätze für ‚grüne Energie’ wie in Kenia und Marokko. Doch der Bedarf wird erheblich steigen. Allerdings steht auch hier China im Rahmen der ‚Grünen Seidenstraße’ bereit, mit dem Ausbau von Stromleitungen, Solaranlagen und Windparks auch den ‚Saft’ für die zukünftige E-Mobilität zu liefern.
Jin, Keyu. The New China Playbook: Beyond Socialism and Capitalism. Viking, 2023.
Khanna, Parag, Unsere asiatische Zukunft. Berlin: Rowohlt Berlin, 2019.
Li Yifei, Judith Shapiro: China goes green: coercive environmentalism for a troubled planet. Cambridge, UK Medford, MA: Polity, 2020
Rammler, Stephan, Das Elektroauto: Bilder für eine zukünftige Mobilität. Lit-Verlag, 2011
Thun, Eric. Changing Lanes in China: Foreign Direct Investment, Local Governments, and Auto Sector Development. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2008
Gekürzte und überarbeitet Fassung des Beitrags Missing Link: Chinas neue Autoindustrie zielt auf den elektrischen Weltmarkt, von Timo Daum. heise online, 18. Febraur 2024,
Der Arbeitsschwerpunkt von Timo Daum ist der digitale Kapitalismus. 2023 hat er im Wiener Mandelbaumverlag das Buch ‚Big Data China. Technologie – Politik – Regulierung‘ veröffentlicht .