IMEC: Geopolitik mit Wirtschaftskorridoren

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, 25. September 2023

Am Rande des G20-Gipfels in New Delhi stellte US-Präsident Biden einen neuen Wirtschaftskorridor vor, der Indien, die Arabische Halbinsel und Europa verbinden soll. Das geopolitische Ziel der USA dabei, ihre Position im Nahen Osten wieder zu verbessern. Doch das Ganze ist ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft.

Indiens Präsident Narendra Modi nannte es „historisch“, US-Präsident Joe Biden einen „real big deal“, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen visionierte eine „grüne und digitale Brücke zwischen Kontinenten und Zivilisationen“. Die vollmundigen Lobeshymnen galten dem India Middle East Europe Economic Corridor (IMEC), der in New Delhi am Rande der G20-Gipfels Anfang September angekündigt wurde. Auch die EU-Kommission wollte dem Globalen Süden etwas bieten und stellte ihrerseits als Teil der europäischen Global Gateway-Initiative Pläne für einen Trans-African Corridor zwischen Angola, Sambia und der Demokratischen Republik Kongo vor.

Der neue Wirtschaftskorridor IMEC soll in seinem östlichen Abschnitt indische Häfen wie Mumbai mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (UAE) am Persischen Golf verbinden, von dort soll es auf Schiene oder Straße durch Saudi Arabien und Jordanien nach Israel gehen, dann wieder weiter auf dem Seeweg zu südeuropäischen Häfen wie dem griechischen Piräus. Neben dem Güterverkehr soll es schnelle Datenleitungen und Wasserstoff-Pipelines geben. Die neue Land- und Seeroute zwischen Indien und Europa könnte angeblich trotz Umladen und Liegezeiten in den Umschlaghäfen 40 Prozent schneller und 30 Prozent günstiger sein als der Schiffsweg durch den Suez-Kanal. Dass es dabei um eine Konkurrenz zu Chinas Belt and Road Initiative, insbesondere zur Maritimen Seidenstraße, geht, ist offenkundig.

„IMEC will drive sustainable development for the entire world.“

Indiens Präsident Narendra Modi, zitiert in Deutsche Welle, 13. September 2023

Beteiligt sind neben Indien und den Durchfahrtsländern auf der Arabischen Halbinsel die Europäische Union, Frankreich, Italien, Deutschland und die USA. ICEM wird beworben als ein Leuchtturmprojekt der Partnerschaft für Globale Infrastruktur und Investitionen (PGII), die die G7 der westlichen Industriestaaten vor zwei Jahren ausgerufen hat. Anscheinend handelt es sich bei der Ankündigung um einen politischen Schnellschuss, denn der Streckenverlauf und damit auch die beteiligten Häfen und die einzelnen Komponenten sind momentan noch ebenso so unklar wie die Kosten, die über den Daumen gepeilt auf zwischen zehn und 20 Milliarden US-Dollar veranschlagt werden, und deren Finanzierung. Binnen 60 Tagen sollen die beteiligten Regierungen nun einen Aktionsplan vorlegen.

Umworbener Mittlerer Osten

Das geopolitische Ziel der USA beziehungsweise ihrer europäischen G7-Partner ist, ihre Position im Nahen Osten wieder zu verbessern. Ein Alarmsignal dafür, dass sie sich in jüngster Zeit zu ihren Ungunsten verschoben hat, war die Einladung an Saudi Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran, dem bisher aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestehenden Fünfer-Club BRICS beizutreten. Mit dem Vorschlag des neuen Korridors an die Länder auf der Arabischen Halbinsel soll jetzt Saudi Arabien, das gerade dabei scheint, sich dem Iran anzunähern, wieder an die Seite des Westens zurückgeholt und Chinas erfolgreiche wirtschaftliche und politische Expansion in den Golfstaaten eingedämmt werden. Und Indien bieten die Pläne eine Aussicht auf Bauaufträge und besseren Zugang zu Absatzmärkten.

„Das geopolitische Ziel der USA beziehungsweise ihrer europäischen G7-Partner ist, ihre Position im Nahen Osten wieder zu verbessern.“

Gleichzeitig könnte damit eine engere regionale Kooperation von arabischen Ländern mit Israel angebahnt werden, auf die auch eine Allianz von Indien, UAE, Israel und den USA (I2U2) abzielt. Zudem soll Indien eingebunden werden, das zwischen „strategischer Autonomie“, einem eigenen, durch China bedrohten Führungsanspruch in der Region und der Annäherung an den geopolitischen Westen laviert. Um Präsident Modi den Schritt an die Seite des Westens zu erleichtern, werden neben der Aussicht auf eine bessere infrastrukturelle Anbindung an Europa auch Technologie- und Waffenlieferungen sowie sicherheitspolitische Kooperationen wie das Militärbündnis mit den USA, Australien und Japan (Quad) in die Waagschale geworfen.

Doch das Ganze ist ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, die Durchführbarkeit des Projekts eine Gleichung mit vielen unbekannten Größen und bekannten Widersprüchen: Allein die Schaffung der Infrastruktur steht vor immensen Herausforderungen, weil große Lücken bei Hafenausrüstung und Transportwegen bestehen. Angesichts der ungeklärten Details und hoher Risiken trauen sich private Geldgeber, die bei PGII einen Großteil der Kosten tragen sollen, nicht aus der Deckung. Dass ausgerechnet Chinas Logistik- und Reederei-Riese COSCO am Hafen Piräus, der eine wichtige Drehscheibe für IMEC werden könnte, eine Mehrheitsbeteiligung hält, ist eine Ironie der längst erreichten globalen Vernetzung.

Korridor-Konkurrenz

Konkurrenz ist zudem nicht nur das eingespielte Netz der neuen Seidenstraßen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kritisierte das IMEC-Projekt umgehend, dass es die Türkei umgeht, und sprach sich für eine eigene Alternative aus: Das Iraq Development Road Project solle den Irak beziehungsweise den Persischen Golf durch die Türkei mit Europa verbinden. Außerdem ist Ankara am Ausbau des sogenannten Mittleren Korridors von China durch Zentralasien nach Europa beteiligt, der Russland umgehen würde und dessen südlicher Strang durch die Türkei und weiter nach Westeuropa führen soll. Durch den Ukraine-Krieg und den Konflikt zwischen Aserbeidschan und Armenien sind einige Streckenabschnitte allerdings blockiert.

Ebenso hat die Regierung in Teheran eigene Pläne, die Lage des Iran als Drehscheibe für Transportverbindungen im Mittleren Osten auszunutzen. Dazu gehört der Nord-Süd-Transportkorridor INSTC, der von Russland durch das Kaspische Meer mit Stopp in Aserbeidschan und weiter durch den Iran und den Indischen Ozean nach Indien verlaufen würde. Angeblich fuhr am 27. August, also zwei Wochen vor der Ankündigung von IMEC in New Delhi, der erste Güterzug von Russland nach Saudi Arabien. Der Transportweg könnte helfen, westliche Sanktionen zu unterlaufen und Indien Verbindungen nach Zentralasien unter Umgehung von Pakistan eröffnen. Mit Taliban-Afghanistan steht zudem ein wichtiger Rohstoffproduzent bereit, der ans Netz angeschlossen werden könnte und längst unter anderem von Indien und China mehr oder minder deutlich umworben wird.

„Große, grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte sind nicht nur wirtschaftlich riskant, sondern auch
politisch vermint.“

Ähnlich wie IMEC hat dieser Nord-Süd-Korridor allerdings viele Hindernisse zu überwinden, unterschiedliche strategische Orientierungen zwischen Russland, Iran und Indien bremsen gewaltig. Alle drei Regierungen verfügen nur über begrenzte Finanzmittel. Zudem sind ihre politischen Interessen sehr verschieden: Iran und Russland suchen die engere Zusammenarbeit mit China, während Indien bei seinem Streben nach mehr Rückhalt durch den Westen nicht allzu eng an der Seite der internationalen Paria-Staaten gesehen werden möchte. Deshalb kommt auch der Ausbau des iranischen Hafens Chabahar als Umschlagplatz im Golf von Oman und einer Wirtschaftssonderzone durch Indien nicht voran.

Dass große, grenzüberschreitende  Infrastrukturprojekte nicht nur wirtschaftlich riskant, sondern auch politisch vermint sind, gilt auch für den jetzt vorgeschlagenen Wirtschaftskorridor zwischen Indien, der Arabischen Halbinsel und Europa. Die Regierungen, die US-Präsident Biden und die EU dahinter versammeln wollen, sind unsichere Kantonisten. Teils sind sie bereits enge Partner Chinas, dessen Verlockungen der geopolitische Westen vorerst wenig entgegen setzen kann. Insbesondere Saudi Arabien möchte zudem selbst das Große Rad in der Region drehen durch wirtschaftliche Diversifizierung, ein Atomprogramm eingeschlossen, und strebt danach, seine außenpolitischen Spielräume zu erweitern. Und Indien laviert, wie gesagt. Gegenwärtig ist IMEC denn auch kaum mehr als eine Geste im geopolitischen Poker um Verbündete und Einfluss. Außerdem wissen alle Regierungen, die damit geködert werden sollen, sehr wohl, auf welch wackligen Beinen das ganze Projekt steht und haben immer noch einen Plan B – wie Beijing.

Update 10. Oktober: Mit der militärischen Eskalation des Konflikts im Nahen Osten könnte sich der ganze Plan schneller als erwartet als eine Totgeburt erweisen.

Anmerkung: Germany Trade&Invest (GTAI), die Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing, die dem Ministerium für Wirtschaft und Klima angegliedert ist, bietet einen guten Überblick über politische Initiativen zur Verbesserung der weltweiten Vernetzung in den Bereichen Transport, Energie und Digitalisierung, darunter die G7 Partnership for Global Infrastructure and Investment (PGII), Global Gateway und der Master Plan on ASEAN Connectivity 2025 für Südostasien. Aufschlussreich ist auch der Überblick über die elf strategischen Korridore in Afrika, deren Bau und Ausbau die EU als Teil von Global Gateway zwischen 2021 und 2027 mit (gerade einmal) 1,68 Milliarden Euro unterstützen will.

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