China, Geopolitik und der Globale Süden
Uwe Hoering, 17. April 2023
Die Äußerungen von Frankreichs Präsidenten Macron zur europäischen Positionierung im Taiwan-Konflikt haben hohe Wellen geschlagen. Die geopolitischen Aufreger: Es sei „nicht in unserem Interesse, beim Thema Taiwan auf dem Gaspedal zu stehen“, was schnell als Absage an jegliche Unterstützung für Taiwan umgedeutet wurde. Und: „Die Europäer sollten sich ihren Kurs nicht durch die Agenda der USA oder die chinesische Überreaktion bestimmen lassen“, was als Aufkündigung der transatlantischen Bündnistreue gelesen wurde.
Wasser auf die Aufregungs-Mühlen war, dass zeitgleich eine chinesische Militärübung um Taiwan herum stattfand – eine Machtdemonstration mit Ansage nach dem Reiz-Reaktions-Schema auf das Treffen der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen mit dem Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy. Doch auch ohne sie wären die Wellen hochgeschlagen.
Little China Boy
Insbesondere bei deutschen Medien und Politiker*innen brach nach der Veröffentlichung der Äußerungen ein Shitstorm los. Bar jeglicher deutsch-französischer Freundschaft, wimmelte es da von Diffamierungen, Macron sei „von allen guten Geistern verlassen“, habe sich von Xi Jinping „einwickeln“ oder von seinen „anti-amerikanischen Reflexen“ treiben lassen und würde Beijing „eher zur Aggression ermuntern“. Vermutet wurde auch, er revanchiere sich damit jetzt für die Verlade beim Atom-U-Boot-Deal AUKUS oder wolle schlicht vom Rentenkonflikt ablenken.
Die Überlegung, ob er eventuell zumindest in einigen Punkten Recht haben könnte, kam anscheinend den Wenigsten in den Sinn. Seine Warnung vor verhärteten Fronten und jeglichem Versuch, den Taiwan-Konflikt militärisch lösen zu wollen, ging ebenso unter wie sein gar nicht so abwegiges Anliegen einer größeren wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Eigenständigkeit Europas und einer Verringerung der Abhängigkeit von China. Klarstellungen aus dem Elysee-Palast oder Unterstützung für seine Position durch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und andere, Europa dürfe nicht als Anhängsel der USA in der Region erscheinen, wurden weitgehend ignoriert oder gar abgewatscht.
Die US-Regierung will nur das Beste – für Taiwan, für den Westen, für die Welt, für die Verteidigung der gemeinsamen Werte.
Der wiederkehrende Kern der Vorwürfe: Macron spiele, bewusst oder unbewusst, das Spiel Beijings, Europa und die USA auseinander zu dividieren. Die zentrale Frage, wie weit der europäische transatlantische Schulterschluss mit den USA geht, welche Themen und Bereiche er umfasst, eine Abgrenzung zwischen ‚Vasallentum’ und eigenständiger Politik und Interessen, blieb bei den meisten Kommentaren dagegen ausgeblendet. Unterstellt wird schlicht: Die US-Regierung will nur das Beste – für Taiwan, für den Westen, für die Welt, für die Verteidigung der gemeinsamen Werte, vor allem, wenn das gleichzeitig damit einher geht, den Absatz von Rüstungsgütern und LNG zu steigern.
Die Agenda der US-Falken
Ein ganz handfestes Motiv für die Agenda der US-Regierung beziehungsweise der US-amerikanischen Falken ist weniger die Verteidigung Taiwans, als vielmehr die Bedrohung ihrer globalen Vorherrschaft. Chinas weiterer wirtschaftlicher und politischer Aufstieg soll gebremst, mehr noch: er soll zurückgeschnitten werden. Im Unterschied zu Macron und der offiziell verkündeten Position der Europäischen Union wird China in dieser US-amerikanischen Weltsicht nur noch als Rivale gesehen, nicht mehr als ein Wettbewerber, geschweige denn als ein Kooperationspartner. Dieser grundlegende Unterschied, der bislang noch zwischen Europa und den USA besteht, wird allerdings in vielen Kommentare immer mehr aufgeweicht.
Wie die europäische Positionierung im Chip-Krieg zeigt, hat sich europäische Politik längst vor den US-amerikanischen Karren spannen lassen. Auch europäische Aktivitäten beschränken sich nicht mehr darauf, die Entflechtung von Produktionsketten und die Verringerung von Abhängigkeit im Namen von Sicherheit und ‚De-risking’ voranzutreiben. Längst zielen Maßnahmen wie Investitionskontrollen und wirtschaftliche Sanktionierung darauf, Chinas Konkurrenzfähigkeit einzuschränken, sei es im Immobiliensektor, bei Fabriken für EV-Batterien oder in harmloser Infrastruktur-Technologie der Deutschen Bahn. Noch sind die USA Europa hierbei einen Schritt voraus, aber die ausufernden Warnungen vor dem wirtschaftlichen und politischen Einfluss chinesischer Unternehmen und damit der Kommunistischen Partei öffnen auch in Europa zunehmend der Eindämmung der wirtschaftlichen Konkurrenz Tür und Tor.
Das nächste Stöckchen, dass die US-Regierung Europa voraussichtlich hinhalten wird, ist die Beteiligung an Sanktionen, die mit Beijings Unterstützung für Russland legitimiert werden könnten. Würde Europa tatsächlich bei jeglichen Strafmaßnahmen, verhängt vom großen Bruder, mitmachen, selbst wenn sie ‚uns’ vermutlich mehr schaden würden als den USA.? Wie weit geht der partnerschaftliche Schulterschluss? Wo beginnt die Vasallen-Treue? Und: Wäre dann der angestrebte Balance-Akt zwischen der Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Beziehungen und einer Verringerung von ‚Risiken’, der in der öffentlichen politischen Diskussion immer noch angestrebt wird, überhaupt noch möglich?
Solche Konflikte und Widersprüche werden gerne damit weggewischt, dass transatlantisch alles sehr partnerschaftlich geregelt wird. Doch wie weit lassen sich die USA tatsächlich von ihren Verbündeten in ihre auf Konfrontation mit Beijing gebügelte Agenda reinreden? Jüngstes Beispiel dafür, dass die US-Regierung ihrerseits nicht gerade zimperlich mit Partnern umgeht, ist der protektionistische Inflation Reduction Act IRA, der nach einem Protestgeheul von den düpierten Europäern mit einigen Weichspülern geschluckt wurde.
Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’….
Die Frage der Vasallen-Treue ist aber vor allem angesichts der militärischen Eskalation berechtigt. Dass die USA neben dem Wirtschaftskrieg auch das globale Wettrüsten vorantreiben, dürfte eigentlich niemandem mehr entgangen sein. Noch zögern die meisten europäischen Regierungen, die sich bislang eher symbolisch wie mit der Abenteuerfahrt der deutschen Fregatte Bayern am Konfrontationsszenario in Asien beteiligen. Das Vereinigte Königreich ist mit der Militärallianz AUKUS schon mitten drin. Und die neue Pazifik-Strategie der NATO erklärt den Fernen Osten mehr oder minder unverhohlen zum ‚Hindukusch’, an dem unsere Sicherheit und Werte verteidigt werden.
„The risk is that of a self-fulfilling strategy by the U.S. and China.“
Emmanuell Macron
Angesichts dieser Eskalationsspirale, angetrieben von wechselseitigen Provokationen, kann ein militärischer Konflikt längst nicht mehr ausgeschlossen werden. Auslösen könnten ihn eine chinesische, nationalistisch befeuerte Fehleinschätzung der Lage sein (vor der Beijing angesichts von Russlands Erfahrungen aber hoffentlich gefeit ist). Der GAU wäre eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans, angetrieben von der kräftig geschürten Erwartung, die USA oder der Westen würden sie schon schützen (wie die Ukraine). Aber auch ein schlichter ‚Zwischenfall’ könnte schon reichen, die Vernichtungsmaschinerie auf beiden Seiten in Bewegung zu setzen.
Eine neue Weltordnung
In diesem Punkt irrt Macron übrigens: Taiwan geht Europa schon sehr viel an, die Entwicklung birgt natürlich Sprengkraft auch für Europa. Taiwan ist der explosivste (wenn auch durchaus nicht der einzige) Stachel, den man, wenn man will, immer weiter ins Fleisch von Festlandschina hineintreiben kann. Aber anstatt sich mit Worten oder Taten an der weiteren Eskalation zu beteiligen, wäre es doch wohl sinnvoller, nach Entspannungsmöglichkeiten zu suchen – bevor es wieder zu spät ist.
Hierbei gibt es übrigens für Europa Verbündete, die ebenfalls eine weitere Blockbildung und Militarisierung fürchten und sich nicht zwingen lassen wollen, sich auf einer Seite der Konfliktparteien zu positionieren: Die Länder des Globalen Südens. Um sie zu gewinnen, müsste Europa aber schon mehr tun als bisher – vage Ankündigungen wie Global Gateway reichen da nicht aus, das jahrzehntelange Disengagement auszugleichen. Und eine opportunistische Anbiederung an Erdgas-Autokratien oder eine neokoloniale Festschreibung dieser Weltregionen als Rohstofflieferanten für den grünen Kapitalismus unterscheidet Europa nicht wesentlich von China.
Möglicherweise könnte Europa sogar die Überlegungen einer neuen, wirtschaftlich und sozial gerechteren Weltordnung aufgreifen und dieses Aktionsfeld nicht Beijing überlassen. Denn angesichts der vielfältigen Krisen steht die Frage einer derartigen Neuordnung tatsächlich auf der Tagesordnung, zumindest für viele Länder des Globalen Südens. Damit könnten dort zugleich wirtschaftliche Diversifizierung durch Industrialisierung und demokratische Kräfte gestärkt werden. Anfangen könnten Europa, der Norden, der Westen dabei mit einem substantiellen Beitrag zu einer wirksamen Lösung der bedrohlichen neuen Schuldenkrise.