Ukraine-Russland: Man schlägt den Sack, …

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, 26. Juni 2022

Der Krieg des russischen Regimes gegen die Ukraine ist ein – willkommener? – Anlass, um auch in der globalen Konkurrenz gegen China zu punkten. Man schlägt den Sack, aber meint den Esel. Auf den ersten Blick mag das nicht so aussehen. Aber China ist der Esel, respektive der Elefant im Raum, und eine internationalistische Diskussion muss sich dieser Herausforderung stellen, so schwierig es ist. Denn es verlangt, die globale Weltordnung, die dadurch neu konfiguriert wird, auch neu zu analysieren, um die eigene Positionierung zu finden.

Die aktuelle Situation ist eindeutig: Die Ukraine wurde angegriffen. Dadurch hat sich Putins Regime in vielerlei Hinsicht ins Unrecht gesetzt. Aber setzen sich die NATO, „der Westen“, dadurch automatisch ins Recht? Sind sie die Guten? Eine Frage, die hier unter anderem diskutiert und geklärt werden muss, ist die NATO-Osterweiterung. Eine derartige Aufarbeitung ist notwendig, um die strategischen Ziele und Absichten der NATO, und darin der USA, offenzulegen. Leider funktioniert hier momentan eine recht wirksame medial-politische Tabuisierung,  durch die jeglicher Versuch, darüber zu sprechen, sofort als Rechtfertigung der russischen Aggression diskreditiert wird. Diese Diskussion über möglicherweise falsche Weichenstellungen – auf beiden Seiten – muss aber auch geführt werden, um die Perspektiven für eine Beilegung des Konflikts zu klären: Geht es nur darum, die Ukraine zu unterstützen, ihre Souveränität zu verteidigen? Oder geht es darum, die hegemonialen Kräfteverhältnisse durch eine Neuordnung politischer und ökonomischer Macht zu verschieben?

… und meint den Esel

Obwohl die chinesische Politik bei den Ursachen für die Eskalation um die Ukraine unmittelbar eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt, wird sie in vielfältiger Weise in diese Konfliktsituation hineingezogen. Das funktioniert zum einen über das Narrativ einer ‚Systemkonkurrenz’ von Wertesystemen: Demokratie gegen Autoritarismus, die Gleichsetzung von russischem oligarchischem Klientelismus und chinesischem Parteienstaat, der Verteidigung von Völkerrecht, das andernorts permanent mit Füßen getreten wird, und ‚regelbasierter internationaler Ordnung’, die funktionalisiert und ausgehöhlt wird, wenn’s gerade passt.

Aufreger ist die Parallelisierung des russischen Angriffs mit Beijings Ein-China-Politik, mit der Unterstellung, der Krieg gegen die Ukraine sei ein Versuchslauf für die Eroberung Taiwans.

Das funktioniert aber auch geopolitisch über die Gleichsetzung von zwei sehr unterschiedlichen Konfliktszenarien: Auf dem einen Pol die russische Hegemoniesicherung gegenüber der NATO-Osterweiterung, die zugleich – und möglicherweise mehr noch – einer demonstrativen Sicherung  seines Einflussbereichs in Zentralasien dient, wo sich in Kasachstan oder Georgien ähnliche Absetzbewegungen gegenüber einer russischen Vorherrschaft zeigen. Auf dem anderen die chinesischen Reaktionen hegemonialer Absicherung gegen die nicht gerade friedlich-freundlich gemeinte ‚Hinwendung’ der USA zur Pazifikregion (‚Pivot to Asia’) seit den 2010er Jahren, beispielsweise der Ausbau militärischer Präsenz im Südchinesischen Meer oder das Infrastruktur- und Investitionsprogramm Belt&Road. Beiden Akteuren werden flugs imperiale Ambitionen attestiert, gerne noch untermauert durch ein Psychogramm der beiden Führungsfiguren, die jede weitere Analyse überflüssig erscheinen lassen. Aufreger in dieser Diskussion ist die Parallelisierung des russischen Angriffs mit Beijings Ein-China-Politik, mit der Unterstellung, der Krieg gegen die Ukraine sei ein Versuchslauf für die Eroberung Taiwans. Dementsprechend warf US-Präsident Joe Biden bei einem Besuch in Japan Ende Mai 40 Jahre ’strategischer Unbestimmtheit‘ über Bord und verkündete die Bereitschaft, Taiwan bei einem Angriff auch militärisch beizustehen.

Für viele Beobachter, die sich mit der Situation in Asien auskennen, sind die beiden Gemengelagen wenig vergleichbar. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Regierung in Beijing das Vorgehen und die Reaktionen des Westens gegenüber der russischen Invasion und die Verteidigung der Souveränität der Ukraine in Bezug auf die Möglichkeiten aufmerksam beobachtet, ihre Ansprüche gegenüber Taiwan durchzusetzen. Aber die Option einer ähnlichen Aktion gegenüber Taiwan wird weithin (noch) als höchst unwahrscheinlich betrachtet. Das könnte sich aber mit einer weiteren Eskalation ändern. Nota bene: Taipeh selbst hält seinerseits an einer ‚Ein-China-Position’ fest, beansprucht das Südchinesische Meer ebenfalls für sich und hat selbst dort militärische Pflöcke eingeschlagen.

Great Game East

Mit dieser Gleichsetzung von Russland und China und den damit einhergehenden Warnungen vor einer neuen Blockbildung bekommt der Krieg in der Ukraine einen breiteren, geopolitischen Fokus: Wenn man so will, handelt es sich um eine Neuauflage des ‚Great Game‘ in der Mitte des 19. Jahrhundert zwischen England und Russland, um den Streit, wer Zentralasien kontrolliert, aktuell mit globalisiertem Akteursfeld. In Europa wird eine militärische Machtkulisse gegen Russland aufgebaut, für die US-Präsident Trump einst mit seiner Forderung nach dem Zwei-Prozent-Ziel europäischer Rüstungsausgaben die Vorgabe gemacht hat, die jetzt durch die 100 Milliarden für die Bundeswehr und die europäische Aufrüstung mit einiger Verzögerung nachgeholt wird. Gleichzeitig beteiligt sich Europa an der Eskalation, die die USA in Asien gegenüber China vorantreiben. Anfangs handelte es sich noch um eher symbolische Aktionen wie dem Einsatz der deutschen Fregatte Bayern, die im Sommer 2021 durch das Südchinesische Meer kreuzte. Aber die Verteidigung „europäischer Interessen“ und damit die NATO-Präsenz im Indo-Pazifik  geht inzwischen längst sehr viel weiter, vorangetrieben von Großbritannien und Frankreich. Parallel zu Europa erfolgt hier seit Längerem ein militärisches Wettrüsten, bei dem Chinas eigene militärischen Manöver verglichen mit der Übermacht der USA und ihrer Verbündeten bislang eher als defensiv denn als offensiv interpretiert werden können – aber auch das ist ein Punkt, wo natürlich durchaus ebenfalls weiterer Analyse- und Interpretationsbedarf besteht. 

Der Ukraine-Krieg ist nicht Chinas Krieg, doch wenn er dazu gemacht wird, können wir uns alle sehr viel wärmer anziehen, als nur die Heizungen um zwei Grad herunterdrehen.

Keine Frage jedoch: Diese hegemoniale Eskalation im Westen wie im Osten bringt die chinesische Regierung in eine Zwickmühle: Ökonomisch ist sie für eine nachholende Entwicklung nach wie vor auf freie Märkte und politische Stabilität angewiesen. Gleichzeitig kann sie der Gefährdung der Entwicklungsmöglichkeiten nicht tatenlos zusehen – hängt damit doch die Legitimation der Führung wesentlich zusammen. Wirtschaftlich ist China anscheinend noch längst nicht in einer Position, westlichem Kapitalismus Paroli zu bieten.  Aber man sollte sich auch nicht täuschen: China ist groß, mächtig und innovativ genug, um auf solche Herausforderungen adäquate Antworten zu finden. Der Ukraine-Krieg ist nicht Chinas Krieg, doch wenn er dazu gemacht wird, können wir uns alle sehr viel wärmer anziehen, als nur die Heizungen um zwei Grad herunterdrehen.

Neue Weltordnung

Was westlicher Argumentation zu denken geben sollte: ‚Der Westen’ ist längst nicht mehr das transatlantisch-westliche postkoloniale Verständnis von Weltordnung, auch wenn es in der gegenwärtigen Debatte fröhliche Urständ’ feiert. Die Länder des Globalen Südens haben ihre eigenen Interessen in dieser neuen West-Ost-Konfrontation, die manche Auguren bereits voreilig als neuen Kalten Krieg hochschreiben. Der Globale Süden wird hierbei zum gewichtigen Zünglein an der Waage. Und der Westen hat hier sowohl wirtschaftlich als auch politisch die schlechteren Karten. Wirtschaftlich, weil alle seine Versprechungen Schall und Rauch sind. Und politisch, weil die Glaubwürdigkeit des westlichen Diskurses, sich für  Menschenrechte, Entwicklung und Förderung von demokratischen Verhältnissen einzusetzen, so etwas von diskreditiert wurde.

Die Entscheidung über eine neue Weltordnung wird denn auch nicht mehr vom Ausgang des Krieges gegen die Ukraine abhängen: Sie ist global. Und die Waagschale gegen den Westen neigt sich bedenklich. Ob er deshalb einen Krieg gegen China riskieren will – egal, was das für den Rest der Welt bedeuten würde -, ist die entscheidende Frage. Gegenwärtig ist es noch durchaus offen, ob das der Fall ist. Doch je stärker an der Eskalationsschraube gedreht wird, desto schwieriger werden Verhandlungslösungen oder die Konstruktion einer neuen globalen Sicherheitsordnung, deren Notwendigkeit sich mit dem Ukraine-Krieg zeigt. Sie müsste alle binden, die die Macht haben, die globale Sicherheit zu gefährden  – und möglichst auch die Interessen derjenigen schützen, die diese Macht nicht haben.

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