Vom Trittbrettfahrer zum Lokführer in Afghanistan?

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, Juli 2021

Der Truppenabzug der USA und weiterer NATO-Verbündeter, die Eskalation der Gewalt und die Aussicht auf eine indirekte oder direkte Herrschaft der Taliban haben hektische diplomatischen Aktivitäten der näheren und entfernteren Nachbarländer ausgelöst. Darunter sind regionale Schwergewichte wie Indien, Pakistan und Iran, Russland und China. Angeheizt werden ebenso viele Spekulationen, wie sich die neue, noch unklare Situation entwickeln könnte. Denn durch den Rückzug wird das Land zum Epizentrum für regionale Machtkämpfe.

Afghanistan ist eine Schnittstelle ökonomischer und politischer Interessen. Es verfügt über Rohstoffe. Und es ist die Drehscheibe für Energie- und Verkehrskorridore, sowohl in Ost-West-Richtung mit dem ‚Belt’ zwischen Xinjiang und Europa, als auch von Süd nach Nord: Indien beispielsweise sucht verzweifelt eine Antwort auf Belt&Road mit dem Transportkorridor NSTC. Die neue Situation weckt daher vielerlei widersprüchliche Gelüste. Voraussetzung für eine Umsetzung dieser Ambitionen und einen Einfluss auf Afghanistans Zukunft wäre eine Regierung in Kabul, die die Verteilung der Pfründe intern und international organisieren könnte. Momentan würde auf eine solche stabile Situation allerdings wohl niemand wetten.

Peking im Zugzwang

Bei den Denkspielen über die Zukunft steht natürlich das Menetekel China im Mittelpunkt. Keine Frage: Der Abzug stellt für Pekings nationale und regionale Sicherheit und wirtschaftliche Ambitionen in besonderem Maße eine neue Herausforderung dar: Bislang wurde China, das sogar ein kleines Stück gemeinsame Grenze mit Afghanistan hat, als ‚Trittbrettfahrer’ beschimpft, das sich seine wirtschaftlichen Interessen (Bergbau, Erdöl) von NATO-Truppen absichern ließ. Hinter den Kulissen wurde Peking aber anscheinend längst zu einem aktiven Akteur bei der Lösungen für die verfahrene Situation.

Der jetzige Abbruch das One-Trillion-Dollar-Interventions-Abenteuers, das zudem Hunderttausende Menschenleben gekostet und gewaltiges Flüchtlingselend verursacht hat, zwingt Peking jetzt, sich mehr darum zu kümmern. Nach dem Militärputsch in Myanmar tut sich hier eine weitere Konfliktzone auf, die Chinas Expansionsbestrebungen in der Region Steine in den Weg räumt.

Als ein Motiv für ein stärkeres Engagement in Afghanistan führen Beobachter zum einen Pekings Befürchtungen vor einem Erstarken islamistischer Kräfte in der westchinesischen Provinz Xinxiang  an, etwa durch uighurische Kämpfer, die in Afghanistan verortet werden. Dazu kommt die Sorge um die Umsetzung der Belt and Road Initiative. Besonders im Nachbarland Pakistan wächst die Ablehnung gegen das Großobjekt CPEC, vermehrt gab es Anschläge gegen Symbole chinesischer Präsenz wie den Hafen von Gwadar in der Provinz Belutschistan oder diplomatische Vertretungen Chinas.

Kooperation trotz gegensätzlicher Interessen?

Aber Peking ist durchaus nicht der einzige Player, geschweige denn stark genug, um im Alleingang eine Stabilisierung herbeizuführen. Alle wichtigen regionalen Akteure haben ihr Finger und Bauernfiguren im Spiel: Pakistan stützt die Taliban, trotz gegenteiliger Beteuerungen. Indien hat bislang bei seinen schwachbrüstigen Plänen für Alternativen zu BRI in Zentralasien auf die bisherige afghanische Regierung gesetzt, die jetzt im Abgang ist. Moskau würde gerne seinen eigenen Einfluss in Zentralasien stabilisieren und erweitern, trotz blutiger Erfahrungen.

Doch möglicherweise ist das Interesse der Nachbarländer an einer Stabilisierung andererseits dann doch so stark, dass aus Konkurrenten Alliierte werden. Es werden durchaus Hoffnungen gehandelt, dass Peking dabei eine aktivere und substantiellere Rolle spielen wird. Die Herausforderung: die eigenen Interessen mit denen der Nachbarländer in einem regionalen Dialog unter einen Hut zu bringen. Nota bene: Weder Europa noch die USA werden hierbei vermutlich eine Rolle spielen können.

Eine Schlüsselrolle eröffnet sich hingegen für die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), ursprünglich eine Sicherheitskooperation, die Initiator Peking gerne zu einer Wirtschaftspartnerschaft ausbauen möchte. Sie hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie als regionale Organisation alle Länder einbezieht, die eine Rolle spielen in den Weichenstellungen über die Zukunft des Landes. Doch ihre „Effektivität“ ist nach verbreiteter Einschätzung bislang noch „begrenzt“, weil die Interessen auseinander driften.

Und bist Du nicht willig …

Gleichzeitig steht die Vorstellung von Belt& Road auf dem Prüfstand, durch wirtschaftliche Entwicklung und politische Kooperationen Frieden und Wohlstand zu bringen. Eine solche Entwicklung braucht Zeit – und die Voraussetzungen dafür werden eher schlechter. Längst setzt Peking daher in einem Plan B  auch auf den Einsatz von paramilitärischen Sicherheitsdiensten in Regionen, in denen chinesische Investitionen und Staatsbürger gefährdet sind. Gleichzeitig weitet es die militärische Kooperation in besonders wichtigen Ländern wie Pakistan aus. Chris Devonshire-Ellis, ein enthusiastischer Anhänger der Belt&Road, spekuliert sogar auf eine gemeinsame Friedenstruppe von China, Russland und Pakistan. Trotz der Beteuerung, sich nicht in innere Angelegenheiten einmischen zu wollen: Die abschüssige Ebene wird glitschiger, auf der Peking in militärische Abenteuer hineinrutschen könnte.

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