Meine Schuldner, deine Schuldner

China, Geopolitik und der Globale Süden

Uwe Hoering, Mai 2021

Der Vorwurf der „Schulden-Diplomatie“ ist ein beliebtes Argument in der heftiger werdenden Auseinandersetzung um Chinas wirtschaftliche und politische Expansion. Das Narrativ ist simpel gestrickt: Die Kreditvergabe durch staatliche Banken sei intransparent, würde die Korruption fördern und diene vor allem chinesischen Konzernen. Unweigerlich, so die Unterstellung, führe sie zur Schuldenfalle, zu einem Rückzahlungsdiktat, zu Knebelpolitik und gar in die „Schuldknechtschaft“, so die Wirtschaftswoche Anfang Mai. Dabei wird der dicke Balken im eigenen Auge gerne übersehen. Es wird der Eindruck erweckt, als sei Pekings Politik weitaus rücksichtsloser als die Praxis internationaler Finanzinstitutionen, Regierungen westlicher Industrieländer oder kommerzieller Großbanken.

China ante portas

Ein aktuelles Beispiel für diesen Schlagabtausch ist der Bau einer Autobahn in Montenegro, seit 2010 EU-Beitrittskandidat auf dem Balkan. Sie soll die Hafenstadt Bar mit Serbien, Peking engstem Freund in der Region, verbinden und eine wirtschaftliche Entwicklung für das Land ankurbeln, das bislang im Windschatten europäischer Integration liegt. Die Europäische Investitionsbank hatte eine Finanzierung abgelehnt. Gerechtfertigt wurde das mit Zweifeln an der Wirtschaftlichkeit, sprich: der Kreditwürdigkeit, und mit Sorgen um die Umwelt. Daraufhin sprang Peking 2014 mit einem Kredit der staatlichen ExIm-Bank über knapp eine Milliarde US-Dollar in die Bresche.

Im Juli ist jetzt die erste Rückzahlungsrate fällig – 67,7 Millionen US-Dollar, eigentlich Peanuts. Aufgrund von Verzögerungen und Planungsmängeln, die verbreitete Praxis bei großen Infrastrukturprojekten, fehlen jedoch die erhofften Mauteinnahmen. Schnell orakelte die Wirtschaftswoche über die neuen Hunnen aus Fernost, die Montenegro in die „Schuldenfalle“ befördert hätten: „Erstmals droht mitten in Europa ein ganzes Land in die Abhängigkeit von China zu geraten“.

Dabei kann sich die montenegrinische Regierung durchaus auf „höhere Gewalt“ berufen. Durch Corona ist der Tourismus, wichtigster Wirtschaftszweig des Landes, zusammengebrochen. Und weil sie sich den europäischen Sanktionen gegen Moskau angeschlossen hat, sanken russische Investitionen. Zusätzlich hat sie einen doppelten Bonus: Der Kredit wurde von ihrer Pekingfreundlichen Vorgängerregierung aufgenommen, sie selbst hat sich als pro-europäisch positioniert. Trotzdem wurde die Bitte der Regierung um Finanzierungshilfe durch die EU-Kommission Anfang April abgebügelt: Für Zahlungsverpflichtungen gegenüber Dritten gilt die europäische Solidarität nicht. Kurioserweise bietet die EU gleichzeitig an, trotz negativer Machbarkeitsstudien bei der Finanzierung des weiteren Ausbaus zu helfen. Games, Brussels play.

Risikoaufschlag

Unstrittig ist, dass es wenig Transparenz bei chinesischen Krediten gibt. Tiefere Einblicke schafft jetzt eine Studie, die erstmals rund 100 Verträge mit 24 Ländern auswerten konnte. Sie bestätigt, Peking sei „ein bulliger und geschäftstüchtiger Kreditgeber“, der Vertragsbedingungen deutlich zum eigenen Vorteil formuliert: „Chinesische Verträge enthalten ausgefeiltere Rückzahlungsgarantien als die ihrer Kollegen auf dem offiziellen Kreditmarkt, sowie Elemente, die chinesischen Kreditgebern einen Vorteil gegenüber anderen Gläubigern verschaffen.“ Das ärgert natürlich westliche Regierungen, internationale Finanzinstitutionen und Banken und „sorgt bereits für Spannungen“ zwischen den verschiedenen Gruppen.

Wie im Fall von Montenegro sind chinesische Banken häufig ‚Lender of last resort’. Sie sind bereit, Kredite an Staaten zu vergeben, die bereits hoch verschuldet sind, und für Vorhaben, die westlichen Projektprüfungen nicht entsprechen. Daher sind Risikoaufschläge und –absicherungen gängig, ebenso bei Ländern mit instabilen politischen Verhältnissen. „Chinesische Staatsbanken  passen rechtliche und finanztechnische Instrumentarien an, um ihre Investitionen zu schützen und die „Senioritätsleiter“ zu erklimmen, um so möglicherweise einen Rückzahlungsvorteil gegenüber anderen Gläubigern zu erlangen“, heißt es in der Studie.

Welcome to the club

Die Analyse der chinesischen Verträge kommt aber auch zum Ergebnis: „Selbst wenn wir beunruhigende Klauseln in Schuldverträgen zwischen staatlichen Kreditnehmern und Chinas staatlichen Unternehmen finden, kann man daraus nicht schließen, dass sie gegen internationale Standards verstoßen.“ Auch westliche Finanzierungen zeichnen sich nicht gerade durch übermäßige Offenheit aus, legen teils harsche wirtschaftliche und politische Bedingungen fest und kommen natürlich auch vorrangig Unternehmen aus den Geberländern zu gute. „Alle Gläubiger, einschließlich Geschäftsbanken, Hedge-Fonds, Lieferanten und Exportkreditagenturen, versuchen ein gewisses Maß an Einfluss auf die Schuldner zu nehmen, um ihre Aussichten auf Rückzahlung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu verbessern.“ Kurzum: Der Konkurrenzkampf um den internationalen Kreditmarkt mit einem Volumen von vielen Milliarden US-Dollar wird von allen Beteiligten mit harten Bandagen geführt.

Gleichzeitig relativiert die Studie ein weiteres Element des verbreiteten medialen und politischen Narrativs, die Behauptung, dass Chinas Kreditvergabe darauf angelegt sei, sich in ärmeren Ländern strategische Einrichtungen anzueignen: Gerüchte werden gestreut, China könnte in Montenegro als Entschädigung die Kontrolle über den Hafen von Bar bekommen und damit möglicherweise sogar einen Marinestützpunkt in Europa! Doch die Studie findet „kaum Anzeichen dafür, dass Chinas staatliche Banken routinemäßig physische Infrastruktur – wie einen Seehafen oder ein Kraftwerk – als Sicherheiten verwenden.“ Sie präferieren offenbar Sicherheiten in Form von Bankkonten, die im Falle eines Ausfalls beschlagnahmt werden können. Verglichen damit sind immaterielle Vermögenswerten aufwändiger zu sichern und zu verkaufen, lassen sich nicht so leicht verheimlichen und sorgen eher für negative Medienberichte und politische Kontroversen.

Jeder gegen jeden

Montenegro ist wahrlich kein Sonderfall. Über die Jahre hat sich eine neue Schuldenkrise aufgebaut, verschärft durch die Pandemie und den Verfall der Rohstoffpreise. Mit wenigen Ausnahmen ist China allerdings nicht der Böse Bube in dieser Entwicklung, und nicht allein verantwortlich für die finanziellen Belastungen, unter denen jetzt viele Länder ächzen. Sein Anteil an den Schulden ist nur in wenigen Fällen bedenklich hoch. Für Montenegro liegt er bei gut 20 Prozent der Auslandsschulden insgesamt.

Ein gemeinsames Schuldenmanagement oder gar ein multilateraler Schuldenerlass, in den auch die privaten Geldgeber einbezogen werden müssten, ist schwierig.  Die Gläubiger werden erfahrungsgemäß erst aktiv, wenn schwerwiegende Zahlungsausfälle drohen, die ihnen selbst schaden würden. Denn alle wollen möglichst viel von ihrem Geld zurück. Dabei kämpft jeder gegen jeden und beobachtet genau, „ob ein anderer einen besseren Deal bekommt“, so The Economist.

Eine umfassende Um- oder Entschuldung ist zudem auch dadurch schwieriger geworden, dass die Zahl der Gläubiger gewachsen ist. Früher war die Gruppe internationaler Finanzinstitutionen wie Weltbank, IWF oder die Asiatische Entwicklungsbank ADB, eine Handvoll von Großbanken und die Regierungen der reichen Länder weitgehend unter sich. Sie konnten sich im ‚Paris Club’ abstimmen und gemeinsam Druck auf die Schuldner machen. Inzwischen ist China zum größten bilateralen Gläubiger aufgestiegen und bietet den Ländern Alternativen, ebenso wie die von China angeschobenen Finanziers wie die New Development Bank NDB (auch als BRICS-Bank bezeichnet) und die Asian Infrastructure Investment Bank AIIB. Zudem haben viele Staaten angesichts niedriger Zinsen sehr viel mehr kommerzielle Kredite aufgenommen.

Großzügige Gläubiger gesucht

Die Corona-Krise und die Verschärfung der Schuldensituation haben aber auch etwas Bewegung in die Diskussion gebracht. Erstmalig hat sich Peking an einer multilateralen Initiative für Erleichterungen beim Schuldendienst (Debt Service Suspension Initiative, DSSI) beteiligt, die für gut 70 der ärmsten Länder der Welt die fälligen Rückzahlung bis Ende 2021 aufschiebt. Nach Angaben der Weltbank hat das bislang schätzungsweise fünf Milliarden an Schuldenerleichterung gebracht. Doch das ist nicht viel mehr als ein Notverband, keine echte Entlastung.

Ein besonders heißes Thema sind die sogenannten illegitimen Schulden, die durch umweltschädigende Vorhaben entstanden sind, wie zum Beispiel fossile Brennstoffe, oder für Projekte aufgenommen wurden, die gescheitert sind oder zu Vertreibungen geführt haben.  Die Streichung dieser Schulden, die zivilgesellschaftliche Organisationen fordern, würde öffentliche Gelder für überlebenswichtige Bereiche freisetzen und wäre eine Frage der Gerechtigkeit. 

In dieser Situation würde sich für Peking die Chance bieten, sich großzügig zu zeigen. China, das nicht dem westlichen Gläubigerkartell ‚Paris Club’ angehört, hat bereits bilateral Schuldenerleichterungen in der einen oder anderen Form vorgenommen, vor allem für zinsfreie Kredite. Es kann damit Gutes Wetter bei seiner Klientel, den Ländern des Globalen Südens, machen. Und verbreitete Rückzahlungsprobleme und Zahlungsausfälle könnten ihm selbst auf die Füße fallen.

Aber auch für die EU wäre es eine Chance, um zu punkten. Der serbische Politikberater Stefan Vladisavljev empfiehlt ihr eine Überbrückungszahlung für Montenegro. Das würde helfen, das Ansehen der EU im westlichen Balkan aufzupolieren, das durch unsichere Beitrittsaussichten einerseits, großzügige chinesische und russische Akteure andererseits bereits schwer gelitten hat. Länder, die als „trojanische Pferde“ Chinas betrachtet werden, könnten so eventuell zurückgewonnen und Pekings Einfluss in der Region zurückgedrängt werden.

Man darf also gespannt sein, welcher Gläubiger sich als erstes bewegt, nicht nur im Fall Montenegro, wo es lediglich um die Portokasse geht. Angesichts der Milliarden, die auf dem Spiel stehen, haben bei Zahlungsproblemen nicht nur Schuldner, sondern auch Gläubiger ein Problem. Die grundsätzliche Frage aber ist: Wie können Länder in die wirtschaftliche Lage versetzt werden, ihre Kredite pünktlich und ordentlich zu bedienen? Und wer hat in der „Systemkonkurrenz“ mit China dafür die besseren Konzepte?

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